LOGO

- Astronomie im Berchtesgadener Land -

Monatsthema November 2004: "Nützliche Zerrbilder"

[0411_monatsthema_kk.jpg]
Das grosse Bild zeigt den kompakten Galaxienhaufen Abell 2218 mit einer Vielzahl von verzerrten Abbildern einer Hintergrundsgalaxie (Quelle: Space Telescope Science Institute, http://hubblesite.org). Es ist eines der besten Beispiel von "strong lensing" durch Galaxienhaufen.

[0411_monatsthema2_kk.jpg][0411_monatsthema3_kk.jpg]
Die beiden kleinen Bilder zeigen die Galaxie M83, einmal als reale Aufnahme und durch eine Modellrechnung von Dr. Michael Matthias extrem verzerrt. Dabei ist die punktförmige Linse nicht sichtbar. Eine so starke Verzerrung ist in der Realität nicht zu erwarten; sie dient nur der Illustration des Effektes.
[Zum Vergrößern bitte das entsprechende Bild anklicken]

Als Kind hatte ich eine Schwäche für Glasziegel, die die Welt so wunderbar verzerrten. Im Zerrbild versuchte ich manchmal herauszufinden, wie das "dahinter" wohl in "echt" aussehen würde. Zur Lösung kam ich meistens, indem ich aus einem "richtigen" Fenster oder vor der Türe die Szene beobachtete.

In späteren Jahren als Astronom begegneten mir die Zerrbilder wieder. Diesmal nicht als Abbildung irdischer Landschaften durch schlechte Linsen oder Glasziegel, sondern als Gravitationslinsen. Bei diesen gibt es nicht einfach ein "richtiges Fenster", um zu verstehen, was wir sehen. Wir müssen wohl ein wenig ausholen.

Bereits im 18. Jahrhundert spekulierten einige Physiker, dass Licht sich nicht nur wie eine Welle, sondern auch wie ein Teilchen verhalten und daher in einem Gravitationsfeld, beispielsweise eines Sterns, abgelenkt werden könnte. Sie berechneten auch die Ablenkung theoretisch, konnten sie aber nicht beobachten.

Die allgemeine Relativitätstheorie (ART), die Albert Einstein 1915 veröffentlichte, beschreibt den Lichtablenkungseffekt vollständig. Dass dieser Teil der ART mit Beobachtungen übereinstimmt, wurde erstmals 1919 bei der berühmten Sonnenfinsternisexpedition von Sir Arthur Eddington überprüft. Dessen Messergebnis war zwar noch Gegenstand mancher Diskussionen, viele weitere Beobachtungen erhärteten jedoch die Korrektheit der Lichtbrechung in Gravitationsfeldern. Dies ist heute als Gravitationslinseneffekt bekannt und wird oft kurz als "Lensing" bezeichnet. Einstein selbst veröffentlichte 1936, angeregt durch den tschechischen Ingenieur Rudi Mandl, einen Artikel über das Lensing eines Sterns durch einen Stern. Er hielt es jedoch für unwahrscheinlich, das ringförmige Abbild jemals beobachten zu können - die Abbilder wären zu nahe zusammen.

Der Schweizer Astronom Fritz Zwicky veröffentlichte 1937 zwei Arbeiten, in welchen er das Lensing von Galaxien durch Galaxien betrachtete. Seine Schlussfolgerung war, dass die Abbilder von "gelensten" Galaxien etwa 10 Bogensekunden separiert sein sollten, und dass sie sehr häufig sein müssten. Beobachten konnte man den Effekt seinerzeit jedoch nicht. Daher wurde es ruhig um das Thema, nur 1963 wurden noch einmal drei bedeutende theoretische Arbeiten zu diesem Thema publiziert; der Astronom Klimov untersuchte wiederum Lensing von Galaxien durch Galaxien, Liebes und Refsdal dagegen das Lensing durch Punktmassen.

Vor 25 Jahren, im Jahr 1979, fanden die Astronomen Walsh, Carswell und Weymann auf der Suche nach den optischen Gegenstücken von Radioquellen einen "Doppelquasar" mit einem Abstand von 6 Bogensekunden. Erstaunlicherweise hatten die beiden Quasare die gleichen physikalischen Parameter. Tatsächlich handelt es sich nur um ein Doppelbild eines Quasars mit Namen QSO 0957+561. Sie hatten die erste Gravitationslinse entdeckt.

Bis 1990 wurden eine Handvoll weiterer Linsen entdeckt, z.B. der Dreifachquasar QSO 1115+080 und der erste "Einsteinring" im Jahr 1987. Die Grundlage für einen Boom legten die Beobachtungen von stark elongierten Strukturen in zwei Galaxienhaufen im Jahr 1986. Es stellte sich heraus, dass es sich um stark verzerrte Abbilder von Galaxien weit hinter dem Galaxienhaufen handelte. Ab 1990 wurden mit dem Hubble Weltraumteleskop und den neuen grossen Teleskopen ganze Programme zu Gravitationslinsen durchgeführt. Es entstand eine richtige "Industrie". Dazu war von Vorteil, dass die Theorie der Gravitationslinsen sehr einfach ist, obwohl sie von der Allgemeinen Relativitätstheorie abgeleitet wird, die aus gutem Grund nicht im Ruf steht, leicht verständlich zu sein.

Was kann man mit Gravitationslinsen anstellen? Wie "normale" Linsen verstärken Gravitationslinsen weit entfernte Objekte. Wir können sie also als gigantische Teleskope verwenden und damit sehr weit entfernte Objekte, die normalerweise zu lichtschwach wären, detaillierter untersuchen.

Eine weitere Möglichkeit bietet sich beim Auffinden von nahen, aber ebenfalls schwachen Objekten wie massearmen Sternen und Braunen Zwergen, MACHOs genannt (Massive Compact Halo Objects).

Kollaborationen wie MACHO, EROS oder OGLE nutzen den Verstärkungseffekt für die Suche nach MACHOs; hier ist die Linse das gesuchte Objekt. Dabei stand die Frage am Anfang, ob die Dunkle Materie in der Milchstrasse und anderen Spiralgalaxien aufgrund ihrer beobachteten Dynamik durch MACHOs erklärt werden könnte. Hierzu beobachtet man ein "Hintergrundsternfeld" wie zum Beispiel die Magellansche Wolke oder einen Ausschnitt aus dem Zentrum der Milchstrasse. Es sollte möglichst viele Sterne umfassen, mindestens etwa eine Million. Jeder dieser Sterne wird in kurzen Zeitabständen aufgenommen und auf Helligkeitsschwankungen untersucht. Ein Lensing-Ereignis zeichnet sich durch eine charakteristische Helligkeitsveränderung aus, die sich von anderen Variationen, wie sie veränderliche Sterne zeigen, unterscheidet. Als Nebeneffekt fand man in diesen Projekten grosse Zahlen veränderlicher Sterne. Für eine Lösung des Dunkle Materie-Problems reichen die gefundenen MACHOs jedoch nicht aus. In den letzten Jahren versucht man auf diese Art auch Planeten zu finden.

Lensing erlaubt auch, die Linsen genauer zu untersuchen. Das wendet man an, um Linsengalaxien zu "wiegen": wenn man den Abstand zu einer Quellengalaxie zum Beispiel aus ihrer Rotverschiebung kennt, kann man die Masse der Linsengalaxie berechnen. Auch die Modellierung der Massenverteilung von Galaxienhaufen aus den verzerrten Abbildern eines oder mehrerer Hintergrundobjekte ist möglich. In diesem Gebiet ist die Forschungsgruppe von Prof. Sabine Schindler von der Universität Innsbruck höchst erfolgreich tätig.

Vielleicht denken Sie ja dran, wenn Sie das nächste Mal durch Butzenscheiben oder Glasziegel sehen: aus Zerrbildern lässt sich viel lernen.

Andreas Kronawitter


Zum Sternenhimmel November 2004

Zu den anderen Monatsthemen


[AAL] Zurück zur Home Page der AAL
Otto J. Pilzer, 2004-11-01